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Autor
Schischkin, Michail

Die Eroberung von Ismail

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Beschreibung

Die Eroberung von Ismail, Michail Schischkins erster Roman, erschien im russischen Original bereits 2000. Nun ist dieser Roman, den man getrost neben Joyce’s Ulysses und Finnegans Wake in die Reihe der „Unübersetzbaren“ stellen kann, in der deutschen Übersetzung von Andreas Tretner erschienen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
DVA, 2017
Format
Gebunden
Seiten
512 Seiten
ISBN/EAN
978-3-421-04643-7
Preis
26,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Michail Schischkin ist einer der meist gefeierten russischen Autoren der Gegenwart. Er wurde 1961 in Moskau geboren, studierte Linguistik und unterrichtete Deutsch. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. Seine Romane »Venushaar« und »Briefsteller« wurden national und international vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er als einziger alle drei wichtigen Literaturpreise Russlands. 2011 wurde ihm der Internationale Literaturpreis Haus der Kulturen der Welt in Berlin verliehen. Sein Roman »Die Eroberung von Ismail« wurde u.a. mit dem Booker-Prize für das beste russische Buch des Jahres (2000) ausgezeichnet und gilt als sein kompromisslosestes Werk.

Zum Buch:

Die Eroberung von Ismail, Michail Schischkins erster Roman, erschien im russischen Original bereits 2000. Nun ist dieser Roman, den man getrost neben Joyce’s Ulysses und Finnegans Wake in die Reihe der „Unübersetzbaren“ stellen kann, in der deutschen Übersetzung von Andreas Tretner erschienen. Hier haben sich die Worte der Vergangenheit mit denen der Gegenwart verschworen und beherrschen so die Menschen – sowohl die Protagonisten im Roman als auch die Leser. Kaum hat der Leser einen kleinen Sinnzusammenhang beim Schopf gepackt, erweist er sich als Chimäre und entzieht sich wieder. Seitenweise folgen nur Redefetzen und Zitate aus den verschiedensten Sprachstufen aufeinander – manchmal auch durch ein gemeinsames Thema verbunden, wie zum Beispiel eine Aneinanderreihung von überlieferten letzten Worten berühmter Persönlichkeiten –, dann wieder scheint sich eine Art Handlung herauszuschälen, die sich sogar stellenweise zu konventioneller Romanerzählung verdichtet, nur um sich wieder in Kakophonie aufzulösen.

Um einen Eindruck zu gewinnen, wie dicht die Zitate aufeinanderfolgen, sei hier die Verlagshomepage empfohlen. Anhand von Beispielseiten aus der deutschen Übersetzung des Romans werden die verdeckt im Text enthaltenen Zitate, zumeist aus der russischen Literatur, aufgeschlüsselt. Hoch aufschlussreich ist auf der Seite auch der Bericht des Übersetzers Andreas Tretner, wie er sich einem unübersetzbaren Text, als der Die Eroberung von Ismail ausdrücklich bezeichnet wird, genähert hat. Die Erläuterungen des Übersetzers sind aber nicht nur in Bezug auf die Übersetzung von Interesse, sondern sie geben in ganz besonderer Weise Einblicke in die Struktur des Romans, die der Leser nach einmaligem Leser nur oberflächlich überblickt. Tretner zufolge handelt es sich bei dem Roman um ein „Sample“ aus Textfragmenten vorhergehender Autoren und aus Textfragmenten, die so tun, als seien sie Zitate. Der Übersetzer nun entschloss sich dazu, das Verfahren zu übersetzen, wenn schon der Text an sich unübersetzbar ist, und kollagierte nun Textfragmente früherer Übersetzungen und Textteile, die so tun, als seien sie Zitate aus früheren Übersetzungen. Um diese Wirkung zu erzielen, übersetzte Tretner nach eigener Aussage unter anderem altrussische Literatur ins Frühneuhochdeutsche.

Eine Handlung ist kaum nachzuerzählen, denn um eine Handlung geht es im Grunde nicht. Trotzdem hier einige Beispiele: Einer der Erzählstränge handelt von Olga, die eine Affäre mit dem Assistenten ihres Mannes eingeht. Die Szene ihrer Verführung wird abwechselnd in der Sprache der Zeit und in alter Sprache erzählt. Olgas weiteres Geschick könnte auch in einem Roman des 20. Jahrhunderts spielen: sie reist in einen Kurort, verschweigt ihre tödliche Krankheit und nähert sich einem Naturforscher an, der vom Leben ebenso gebeutelt ist wie sie. Dann die Geschichte von Mascha, Frau des Intellektuellen D. in der Provinz, die von einem Offizier des benachbarten Straflagers verführt wird, dann von D.s Affäre mit einer Bibliothekarin und von Mascha und D. als Ehepaar im Alter, in der Erzählung ihres jungen Untermieters geschildert als Philemon und Baucis. Die darauf folgende Geschichte, erzählt von einem Ich-Erzähler, ist wahrscheinlich die längste zusammenhängende Erzählung. Es geht darin um einen jungen Anwalt, der eine zynische Wissenschaftlerin heiratet, die nach einiger Zeit der Ehe, geschildert aus seiner Perspektive, zur Hysterikerin wird. Scheinbar willenlos scheint er vom Schicksal – oder von einem bösen Geist – durchs Leben geschleift zu werden, sodass er weder beruflich noch im Familienleben sein Glück findet.

Der Titel des Romans wird im Text tatsächlich genannt: Als Thema der Vorstellung, die ein Zwölfjähriger mit seinen dressierten Mäusen plant. Er will die Mäuse, ermuntert mit vielen Käsestücken, dazu bringen, eine nachgebaute Festung zu stürmen und damit, so die Anmerkung des Übersetzers in dem sehr hilfreichen Anhang, die historische Eroberung der türkischen Donaufestung Ismail durch ein russisches Heer im Jahre 1790 nachspielen. Das Ereignis der Schlacht, ein nationaler Mythos, wird damit radikal ins Groteske umgedeutet und spielt so mit der Marx’schen These der Geschichtswiederholung als Farce.

Alle Figuren scheinen Bedeutung zu haben, die sich aber im nächsten Moment wieder entzieht. In den späteren Geschichten, die eine Zeitlang eine kohärente Handlung aufweisen, tauchen Figuren und Schicksale wieder auf, erweisen sich aber dann doch als vollkommen andere. Der Leser hat beständig das beunruhigende Gefühl eines Déjà-vu: Ihm scheinen Figuren und Szenen bekannt zu sein, die sich dann aber wieder als absolut fremd erweisen. Dass man als Leser aber die einzigartige Gelegenheit hat, nachvollziehen zu können, wie sich aus Worten Leben formen und diese wieder in Worte zerfallen, ist ein großes Glück.
Der Roman endet mit der Erzählung eines Mannes, der im Zug eingeschlafen ist, einen Albtraum hat, darüber seine Station verpasst und – vom Schaffner geweckt – hastig an einem ihm unbekannten kleinen Bahnhof aussteigt. Genauso geht es dem Leser in diesem Roman: Er weiß nicht, wo er ist, und kann nicht klar unterscheiden, was noch zum Albtraum gehört und was wirklich geschieht. Die Unsicherheit des Lesers bei diesem so ungemütlichen Roman bleibt bis zuletzt unangenehm. Und trotzdem stellt sich die Station, an der er ausgestiegen ist, dann plötzlich doch als die richtige heraus.

Alena Heinritz, Graz