Zum Buch:
Welche Einflüsse prägen und lenken ein Leben? Wie wirken sich der Zufall der Geburt, die angeborenen Begabungen und Neigungen und die unvermeidlichen Wechselfälle des Lebens auf die Persönlichkeit und den weiteren Verlauf der eigenen Entwicklung aus? Wer hätte sich noch nicht gefragt, wie das eigene Leben wohl aussehe, hätte es diesen Umzug, jenen Todesfall, die Begegnung mit bestimmten Menschen und die den Umständen geschuldete Wende bei der Berufswahl nicht gegeben?
Auf all diese Fragen gibt Paul Austers 4 3 2 1 keine Antwort, aber das Buch spielt auf faszinierende Weise anhand seines Protagonisten Archie Ferguson einige Möglichkeiten durch und bietet dem Publikum gleich vier verschiedene Entwicklungsromane an. Der Hintergrund – Geburtsort und -jahr, der osteuropäisch-jüdische Einwanderungshintergrund und die wichtigsten Personen – Vater, Mutter, Großeltern, Tanten, Onkel und gute Freunde der Familie – bleiben die gleichen, genauso wie die Interessen des Jungen: Literatur, Film, Sport. Was sich ändert, sind die Umstände: mal stirbt der Vater und die Mutter heiratet wieder, was Archies Familie beträchtlich erweitert; mal bleibt der Vater am Leben und entwickelt sich vom Kleinunternehmer zum geldversessenen Großkapitalisten, von dem sich die Mutter schließlich trennt, das andere Mal wird aus dem gescheiterten väterlichen Kleinunternehmen der angestellten Handwerker, mit dem die Mutter zusammenbleibt. Das und noch viel mehr hat Einfluss auf die Entwicklung des begabten Jungen, bestimmt zum Beispiel die Wahl des Colleges und auch die Freunde, die er dort kennenlernt, sowie den Beruf, den er anstrebt. Dazu kommt als weiteres entscheidendes Element der Umbruch, den die amerikanische Gesellschaft in den 60er Jahren erlebt: den Kampf der Bürgerrechtsbewegung gegen den Rassismus und für die Gleichberechtigung der Schwarzen, den Kampf der Frauenbewegung für Gleichberechtigung, den Kampf der Studenten gegen den Vietnamkrieg.
Und damit bringt Auster quasi einen fünften „Entwicklungsroman“ ins Spiel: den der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft in diesen Jahren, und es ist dieser Strang der Erzählung, der zur Basis und zur Existenzberechtigung der Geschichten der vier Archies wird. 4 3 2 1 ist für die älteren Leser eine gerade heute sehr notwendige und überaus anschauliche Erinnerung an eine Zeit, die wohl für alle ganz neue Möglichkeiten eröffnet hat, und kann den jüngeren vor Augen führen, dass die Bedingungen auch in heutigen Trump-Zeiten nicht unveränderbar sein müssen. Vor allem aber ist 4 3 2 1 ein literarisches Meisterwerk, in dem Auster alle Register seiner Kunst zieht, sowohl was den Aufbau, als auch was die Sprache anbelangt. Kein Buch also , das man so nebenbei weglesen könnte, aber trotzdem ungemein lesbar – und lohnend!
Irmgard Hölscher, Frankfurt