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Revolution Noir

Autor
Kissina, Julia

Revolution Noir

Untertitel
Autoren der russischen »neuen Welle«. Aus dem Russischen von Ingolf Hoppmann, Olga Kouvchinnikova, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja
Beschreibung

Der Titel des Nachworts der Herausgeberin und Illustratorin dieser Anthologie, Julia Kissina, klingt vermessen: „Goodbye Dostojewski“. Nein, diese Anthologie macht den Meister sicher nicht obsolet. Gemeint ist aber etwas anderes: Die Anthologie Revolution Noir. Autoren der russischen „Neuen Welle“ fügt den bestehenden Bildern über Russland neue hinzu, indem hier Erzählungen erstmals in deutscher Sprache erscheinen oder überhaupt zum ersten Mal publiziert werden.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2017
Seiten
299
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-518-42766-8
Preis
24,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den 80er Jahren zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein und machte sich mit spektakulären Kunstaktionen und als Fotokünstlerin auch international einen Namen. 2005 erschienen auf Deutsch Vergiß Tarantino sowie das Kinderbuch Milin und die Zauberkreide. Sie lebt in New York und Berlin.

Zum Buch:

Der Titel des Nachworts der Herausgeberin und Illustratorin dieser Anthologie, Julia Kissina, klingt vermessen: „Goodbye Dostojewski“. Nein, diese Anthologie macht den Meister sicher nicht obsolet. Gemeint ist aber etwas anderes: Die Anthologie Revolution Noir. Autoren der russischen „Neuen Welle“ fügt den bestehenden Bildern über Russland neue hinzu, indem hier Erzählungen erstmals in deutscher Sprache erscheinen oder überhaupt zum ersten Mal publiziert werden.

Wenn man einige der Erzählungen, die als manieriert und geschwätzig kaum in Erinnerung bleiben, auch beiseitelassen kann, heißt das nur mehr Aufmerksamkeit für die wenigen großartigen Beispiele, die Erstere wieder aufwiegen. Besonders schön ist „Die Reise des Lukas“ (1992) von Wassili Kondratjew, in der ein Mann an einem verlassenen Bahnhof aus dem Zug steigt und sich in der Wildnis verliert. Fantastisch grotesk und dabei fast naturalistisch in der Schilderung beengter Wohnverhältnisse in einer Kommunalwohnung ist die Erzählung „Der Sprung in den Sarg“ von Juri Mamlejew über eine alte Dame, die zwar todkrank ist, aber nicht sterben kann. Ihre Verwandten beklagen, die Pflege bringe sie noch ins Grab, und überreden die Kranke deshalb dazu, ihrerseits freiwillig ins Grab zu steigen.

In Erinnerung bleibt die Geschichte vom „Menschenfresser-Flugzeug“ von Pavel Pepperstein, der den Zweikampf zwischen einem Giftmischer und dem Menschenfresser-Flugzeug irgendwo in der Luft zwischen London und Reykjavík erzählt. Sorokin kommt, wie kann es auch anders sein, in seiner Erzählung „Asche“ wieder laut und gewaltig mit spritzenden Eiterbeulen und menschenfressenden Gourmands daher, und mit einem klaren Sieg über den Nationalismus im heutigen Russland. In „Zweckmäßigkeit“ von Alexej Parschtschikow wird die Arbeit eines Absamers geschildert und dabei in zarte Transzendenz gehüllt, die so gar nicht zu dem scheinbar derben Beruf passen will. Blut, Eiter, Stiersperma –alles ist so explizit und extrem geschildert, wie es sich für eine Avantgarde gehört. Aber die wohl extremste Erzählung des Bandes ist die, in der Kafka als sorgenfreies Familienoberhaupt Mitte fünfzig portraitiert wird. Zufrieden mit seinem geleisteten schriftstellerischen Tagwerk genießt er die deftigen Speisen seiner Gattin und schaukelt seine kleine Enkelin auf den Knien.

Beinahe ebenso spannend wie die Erzählungen sind die Kurzinformationen über die Autoren und Autorinnen am Ende des Bandes. Ihre Biografien spiegeln die ereignisreichen Jahre nach dem Ende des sowjetischen 20. Jahrhunderts wider und die Versuche, mit Emigration und subversiver künstlerischer Tätigkeit die Zensur und Verfolgung zu umgehen.

In ihrem Nachwort erklärt Kissina auch den Titel der Anthologie. Drei Avantgarden habe es in Russland gegeben, und alle hätten auf ihre Weise auf revolutionäre gesellschaftliche Umschwünge reagiert: die erste Avantgarde, auch klassische Avantgarde, genannt, suchte in den 1920er Jahren ihre Stellung zwischen revolutionärem Kampf und individuellem künstlerischem Ausdruck. Die zweite Avantgarde, dann sei mit der Tauwetter-Periode ab 1956 verbunden. In der vorliegenden Anthologie finden sich nun Vertreter der sogenannten dritten Avantgarde zusammen, die allesamt die Jahre der Perestroika künstlerisch mit verfolgten und – soweit es ihnen möglich war – künstlerisch mitgestalteten. „Noir“ ist eine besondere Ausformung des künstlerischen Ausdrucks in den 1980er Jahren – eine fröhlich-groteske, morbide Antwort auf den schon seit langem schal gewordenen sozialistischen Optimismus. Brandneu ist diese „neue Welle“ also nicht mehr. Umso besser, dass ihre Vertreter endlich in deutscher Sprache vorliegen.

Alena Heinritz, Graz