Zum Buch:
Nur widerwillig nimmt man Jaroslav Rudiš‘ Roman „Nationalstraße“ in die Hand: Will man das wirklich? 155 Seiten lang das Geblöke eines chauvinistischen Schlägers, dessen Lebensraum und damit auch der Schauplatz des Romans sich auf seine Wohnung und Stammkneipe in einer trostlosen Prager Plattenbausiedlung beschränkt? Aber schon beginnt man zu lesen, hört nicht mehr auf und bereut am Ende keine Sekunde, die man mit diesem beeindruckenden Roman verbracht hat: ein Roman wie eine zerbeulte Bierdose im Goldrahmen.
Der Autor zählt zu den bedeutendsten tschechischen Gegenwartsautoren. In Deutschland machte er zuletzt 2013 durch die Verfilmung seiner Graphic Novel „Alois Nebel“ von sich reden. Schräge Vögel, Einsamkeit, Marotten und Alltagsmythen sind auch in Rudiš’ anderen Texten seine Spezialität. Feldforschung gehört für den Autor dazu. Mit Vandam habe er, so Rudiš in einem Nachwort zu „Nationalstraße“, einmal einen ganzen Abend in einer Prager Kneipe verbracht und ihm zugehört: „Wir haben getrunken, und Vandam hat erzählt. Bier für Bier. Geschichte für Geschichte.“
Vandam lebt nun schon sein ganzes Leben lang in einer Plattenbausiedlung in der Prager Nordstadt und hegt patriotische Gefühle für sein Revier. Hier ist das wahre Leben, draußen weiß doch keiner, wie es läuft. Wegen Prügeleien wurde er einst aus dem Polizeidienst entlassen. Seitdem lackiert er tagsüber Dächer und verbringt die Abende in seiner Stammkneipe Severka mit immer den gleichen Saufkumpanen und der Barfrau Sylva, die er eifersüchtig bewacht und leidenschaftlich verehrt. Sein Spitzname ist eine Hommage an sein größtes Vorbild, die „Kickbox-Kanone“ Van Damme: „Man nennt mich Vandam. Man nennt mich so, weil ich zweihundert Liegestütze am Stück mache. Zweihundert wie Jean-Claude Van Damme, der echte. Der aus dem Film.“
Den größten Teil des Romans spricht Vandam seinen jugendlichen Sohn an. Ihm erzählt er von seiner Kindheit mit einer Mutter, die unter dem saufenden und prügelnden Vater zu leiden hatte, ihn aber dennoch unwahrscheinlich liebte, von den Abenden in der Severka, wohinein sich zu Vandams größter Freude ab und zu Fremde verirren, auf die er sich dann stürzt wie Obelix auf die Römer, von Sylva, die er so gern ganz zu der Seinen machen würde. Dann wieder gibt er seinem Sohn Ratschläge fürs Leben: wie er sich stählen soll, sich immer bereit halten, wie er kein Schwächling wird und dass er sich stolz schätzen kann mit einem solchen Vater, einem solchen Großvater. Wie für Vater und Großvater sei der Platz des Sohnes in der Kneipe in seinem Revier.
Vandams Anrede an den Sohn wird in der Mitte des Buches unterbrochen durch die Erzählung von einer Nacht, die Vandam und Sylva gemeinsam in seiner Wohnung verbringen. Von ihrem Sex und den schüchternen Versuchen, sich einander auch darüber hinaus anzunähern. Sylva erzählt von sich, und Vandam erfährt so von ihren Schulden, ihrer gescheiterten Ehe, ihrer Tochter, über die sie sich nur wundern kann in ihrer Andersartigkeit.
Die Geschichte ist hart, berührend und oft abscheulich; in Kombination mit Rudiš‘ poetischer, kluger Sprache entsteht ein gewaltiger Sog. Die typografische Anordnung und die zu Grunde liegende anaphorische, gebetsmühlenartige Struktur lassen Teile des Textes auch formal wie das Epos eines gescheiterten Helden erscheinen. Dieser Kontrast zwischen groben Aussprüchen und feiner Sprache, die Vandams Ansichten weder verurteilt noch propagiert, macht das Buch zu einem eigenartigen Kunstwerk.
Alena Heinritz, Mainz