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Autor
Hoebel, Thomas; Knöbl, Wolfgang

Gewalt erklären!

Untertitel
Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie
Beschreibung

Wolfgang Knöbl, Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung, und Thomas Hoebel, wissenschaftlicher Mitarbeiter an diesem Institut, haben zusammen eine Studie vorgelegt, die sich mit einem ebenso sperrigen wie ungeklärten Thema der Soziologie beschäftigt – Gewalt. Was ist sie, wie entsteht sie, wie realisiert sie sich und wie sollte sie wissenschaftlich erforscht werden. Das wichtigste Ergebnis vorweg: Historiker, Soziologen, Philosophen, Juristen und Politikwissenschaftler haben sich bislang mehr mit der überaus komplexen Frage beschäftigt, „warum“ Gewalt in die Welt kommt, als mit der einfacher durchschaubaren, „wie“ Gewalt funktioniert. Die beiden Soziologen analysieren jedoch Gewalt nicht in einer fächerübergreifenden Perspektive, sondern nur als Soziologen. Und allein in diesem Fach ist es um die Forschungslage schlecht bestellt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hamburger Edition, 2019
Format
Gebunden
Seiten
224 Seiten
ISBN/EAN
9783868543353
Preis
22,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Dr. Thomas Hoebel, Soziologe, ist seit 2019 Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Makrogewalt am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er ist Gründungsmitglied der Forschungsgruppe »Organisation, Dauer und Eigendynamik von Gewalt« (ordex-forschungsgruppe.de).

Wolfgang Knöbl, Prof. Dr., Soziologe, ist seit 2015 Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Zuvor war er Professor für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen.

Zum Buch:

Wolfgang Knöbl, Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung, und Thomas Hoebel, wissenschaftlicher Mitarbeiter an diesem Institut, haben zusammen eine Studie vorgelegt, die sich mit einem ebenso sperrigen wie ungeklärten Thema der Soziologie beschäftigt – Gewalt. Was ist sie, wie entsteht sie, wie realisiert sie sich und wie sollte sie wissenschaftlich erforscht werden. Das wichtigste Ergebnis vorweg: Historiker, Soziologen, Philosophen, Juristen und Politikwissenschaftler haben sich bislang mehr mit der überaus komplexen Frage beschäftigt, „warum“ Gewalt in die Welt kommt, als mit der einfacher durchschaubaren, „wie“ Gewalt funktioniert. Die beiden Soziologen analysieren jedoch Gewalt nicht in einer fächerübergreifenden Perspektive, sondern nur als Soziologen. Und allein in diesem Fach ist es um die Forschungslage schlecht bestellt.

Das liegt vor allem an der methodologisch und wissenschaftstheoretisch ausgesprochen unterkomplex agierenden Gewaltforschung, wenn es um die Frage nach den Ursachen der Gewalt geht. Die einfachsten Antworten mikrosoziologischer und kriminologischer Studien etwa behandeln diese schwierige Frage, indem sie Gewalt einfach mit sozialstatistisch ermittelten Grundtatbeständen (Armut, Herkunft, Bildung, Religion) als Variablen ins Verhältnis setzen und im Handstreich zu dem Schluss gelangen, dass arme, ausländische, wenig gebildete oder muslimische Menschen öfter oder stärker zu Gewalt neigen als besserverdienende, deutsche, gebildete oder christliche Bürger. Solche demoskopischen, feuilleton- und vulgärsoziologischen Improvisationen verkennen, dass der Zusammenhang zwischen Gewalt und Armut entschieden komplizierter ist, als es so grobe Kausalvermutungen glauben machen wollen.

Einzelne Gewaltforscher, wie Jan Philip Reemtsma, der Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, ziehen aus den schwer zu ergründenden Ursachen der Gewalt den resignativen Schluss, Gewalt könne man nicht erklären, sondern allenfalls beschreiben. Andere Soziologen wie der Amerikaner Randall Collins empfehlen dagegen ein reduktives Verfahren. Sie untersuchen und erklären nämlich Gewalt nicht mehr auf der Ebene der Gesellschaft, sondern nur noch im sozialen Mikrokosmos, in dem Akteure und Opfer buchstäblich im Hautkontakt sind. Hoebel und Knöbl verwerfen beide Antworten in ihrer subtilen Kritik.

Wenn es um die Ursachen und die Erklärung von Gewalt geht, arbeiten Soziologen mit drei Heuristiken bzw. Arbeitshypothesen oder Methoden. Die einen heben auf die Motive der Täter ab, andere, wie der erwähnte Collins, untersuchen Gewalt nur im empirisch leicht zugänglichen, weil direkt beobachtbaren Nahbereich, wo man ohne Fragen zu den schwer aufdeckbaren Motiven und Zielsetzungen der Täter auskommt, um deren Taten zu erklären. Die dritte Hypothese beruht weder auf Motivsuche noch auf der Analyse von Situationen, in denen Gewalt konkret geschieht, sondern untersucht Konstellationen wie Bürgerkriege, die Gewaltanwendung ermöglichen.

Alle drei Hypothesen – Motiv-, Situations- und Konstellationsansatz – führen zu Zirkelschlüssen, in Sackgassen und lassen bei der Frage nach den Ursachen von Gewalt mehr offen, als sie erklären. Der momentan sehr beliebte Ausweg, Gewaltursachen nicht mehr zu erklären, sondern durch „Erzählungen“ zu ersetzen, ist noch weniger aussichtsreich und führt schnurstracks in den intellektuellen Sumpf der Beliebigkeit, d.h. zu „Narrativen“, von denen es mindestens so viele gibt wie potentielle Erzähler.

Hoebel und Knöbl empfehlen nach einer lesenswerten Kritik aller Um-, Ab- und Irrwege der Gewaltforschung eine Alternative – das prozessuale Erklären von Gewalt. Zur Grundstruktur von Gewaltanwendung gehört ihr temporaler Charakter, d.h. ihr zeitlicher Verlauf, was nicht trivial, sondern folgenreich ist. Gewalt fällt nicht vom Himmel, aber Täter sind bei ihren Taten auch nicht unbedingt und nicht hauptsächlich von sozialen Prägungen gesamtgesellschaftlicher Art bestimmt. So waren z.B. unter den Mörderbanden von Hitlers Einsatzgruppen, die in Osteuropa systematisch Juden umbrachten, eingefleischte Antisemiten nur eine Minderheit. Für die Erklärung der Morde dieser „ganz normalen“ Männer (Christopher Browning) bringt der Hinweis auf „Antisemitismus“ ganz wenig, die minutiöse Rekonstruktion des Ablaufs der Morde, der enorme Druck auf die Täter, die Erwartungen der mörderischen Organisation an ihre Mitglieder zu erfüllen, ihre wechselseitige Beobachtung und Kontrolle sowie die Beschränktheit der Alternativen zum befohlenen Mord entschieden mehr Erklärungspotential. Dem aufklärenden Buch, das frischen Wind in eine öde Debatte über Gewalt und Gewaltursachen bringt, sind viele Leser zu wünschen.

Rudolf Walther, Frankfurt