Zur Autorin/Zum Autor:
Herta Müller, geboren 1953 in Nitzkydorf/Rumänien, lebt seit 1987 in Berlin. Für ihre zahlreichen Werke wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Literatur-Nobelpreis.
Ein Buch über den Gulag, ein Buch über den Hunger – wichtig, zweifellos, jetzt auch noch der Nobelpreis für Herta Müller, Glückwunsch! Nur: Ein Lagerroman aus “zweiter Hand”- nach Solschenitzyn – war das wirklich nötig? Und: Muss ich mir ein solches Thema antun? Kann ich das überhaupt lesen? Drei Fragen, drei Antworten: Ja, es ist nötig, ja, man muss, nein man darf sich das “antun”, und ja, man kann nicht nur, man muss das lesen!
Im Sommer 1944, die russische Armee ist bereits im Land, erklärt Rumänien Deutschland den Krieg. Im Januar 1945 werden alle 17- bis 45jährigen deutschen Männer und Frauen aus Rumänien zur Zwangsarbeit in die vom Krieg zerstörte Sowjetunion deportiert. Unter ihnen ist auch der junge Leopold Auberg, der seiner “Abreise” ins Lager keineswegs nur mit negativen Gefühlen entgegensieht. Der junge Mann, der mit seiner Homosexualität kämpft, will nur weg aus einem Ort, “wo alle Steine Augen” haben, und sei es ins Lager, von dem er sich keine genaue Vorstellung macht. Akribisch wird aufgelistet, was ihm Familie und Nachbarn an Nötigem und für nötig Gehaltenem mitgeben, Gegenstände, die nach seiner Ankunft in der Ukraine einen völlig anderen Charakter, einen völlig anderen Wert annehmen, als man Zuhause für möglich gehalten hat. In der Welt des Gulag ist alles anders, sie hat eigene, grausame Regeln und ihr Herrscher ist der Hunger. Im Bild des “Hungerengels” verkörpert sich die leibhaftige Qual des Hungers zu einer surrealen, ständig präsenten Gestalt, mit der Leopold fünf quälend lange Jahre ringt und die ihn auch nach seiner Lagerzeit nie mehr verlassen wird.
Der Roman stützt sich auf den Bericht Oskar Pastiors, dessen unerwarteter Tod die gemeinsame Arbeit beendet hat. Das mag diejenigen beruhigen, die glauben, über die Schrecken der Lager dürfe nur schreiben, wer sie am eigenen Leib erfahren hat. Dass es sich dabei um einen Irrglauben handelt, dafür ist “Atemschaukel” der beste Beweis. Das Buch zeigt, was Sprache vermag: sie kann in der Situation selbst ein Rettungsanker sein, sie kann aber auch – durch ihre “poetische” Qualität, die ihr eine zupackende Klarheit genauso verleiht wie eine herzzerreißende Zartheit – fast greifbar vermitteln, was ein “Trauma” eigentlich ist und was es mit Menschen macht. Insoweit geht die Bedeutung des Romans weit über die konkrete Situation und über die konkrete Zeit hinaus, die er beschreibt. Er öffnet anhand eines konkreten, akribisch beschriebenen Beispiels den Blick für alle Lager, auch die des 21. Jahrhunderts, auch die, die nicht in Europa liegen, für das, was Menschen überall auf der Welt unter dem Vorwand verschiedenster Ideologien einander antun, und für die Folgen, die daraus erwachsen. In “Atemschaukel” setzt Herta Müller ihre ganze sprachliche Kunst ein, um uns die Abgründe unserer Welt zu zeigen. Und das muss man wirklich lesen.Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main