Zum Buch:
Die Ärmsten der Armen in Italiens vom Großgrundbesitz geprägten Agrarsystem waren jahrhundertelang Tagelöhner und “freie” Landarbeiter. Ein wenig besser standen sich die Halbpächter, die von den erarbeiten Erträgen wenigstens die Hälfte behalten konnten. “Wohlhabend” waren auch sie nicht, zumal die Landbesitzer in wirtschaftlichen Krisen den ihren “zustehenden” Anteil willkürlich erhöhten. Als Resultat dieser Abhängigkeit kam es immer wieder zu Aufständen und Streiks, fanden revolutionäre, kommunistische und anarchistische Bewegungen großen Zulauf. Dies ist der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem Giulia Caminitos erster auf Deutsch erschienener Roman, Ein Tag wird kommen, spielt.
Erzählt wird die Geschichte der Bäckersfamilie Ceresa in dem kleinen “Ort der Habenichtse”, Serra de’ Conti in den Marken. Einer Familie, die vom Unglück verfolgt wird, selbst aber auch kräftig daran mitwirkt. Der Vater ist ein grober Klotz, den das Unglück in der Familie immer nachlässiger bei seiner Arbeit werden lässt, die früh erblindete Mutter sucht ihr Heil im Glauben, mehrere Kinder sterben bereits im Kindbett, eine ältere Schwester ist ins Kloster verbannt worden, und der große Bruder, der einmal die Bäckerei übernehmen sollte, wird aus versehen von einem Nachbarn erschossen. Übrig geblieben sind Lupo und der jüngere Nicolas, zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der kräftige, ungebärdige Lupo ist wenig bereit, sich folgsam in die nun ihm zugedachte zukünftige Rolle des Bäckers einzufügen. Er streift herum, trifft sich mit Gleichgesinnten, immer gefolgt von Cane, dem Wolfsjungen, das er aufgezogen hat. Schon in jungen Jahren fühlt er sich zu einer Gruppe von Anarchisten hingezogen, die versuchen, Widerstand gegen die patriarchalischen Abhängigkeitsverhältnisse der Landbewohner zu organisieren. Der schwächliche, durchsichtig zarte Nicola ist ängstlich und setzt freiwillig keinen Fuß vor die Tür. Er liest und zeichnet und ist in den Augen des Vaters zu nichts nütze. Lupo, der jede Ungerechtigkeit verabscheut, liebt Nicola auf seine raue Art und schützt den Jüngeren, wo er kann. Trotzdem ist es Nicola, der eines Tages mit einem geladenen Gewehr vor Lupo steht …
Mit dem Familienkosmos verflochten sind die Rolle des zwielichtigen Priesters Don Agostini und die Geschichte von Suor Clara, die einer historisch verbürgten Figur nachempfunden ist. Zeinab Alif wurde als Kind im Sudan von Sklavenhändlern entführt und verkauft, kam als Nonne in das Kloster und stieg zur Äbtissin auf. Suor Claras Stellung ist der von Lupo zwar diametral entgegengesetzt, an innerer Kraft und rebellischem Potential steht sie ihm in ihrem Kampf, sich und ihren Schwestern das Kloster zu erhalten, in nichts nach.
Die Handlung des Romans entfaltet sich vor dem Hintergrund der Geschichte Italiens, beginnend mit der entstehenden anarchistischen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts über den Ersten Weltkrieg, die Spanische Grippe bis hin zum Aufkeimen des Faschismus. Ein Tag wird kommen erzählt von Gewalt und Unterdrückung, bei aller Härte aber auch von Zärtlichkeit und Hoffnung .Giulia Caminitos Sprache ist kraftvoll, rau, ausdrucksstark und bildmächtig, und schon nach ein paar Seiten ist man von dem Text gefangen und legt das Buch so schnell nicht mehr aus der Hand.
Ruth Roebke, Bochum