Zum Buch:
Ausgangspunkt dieses erstaunlichen Romans ist der Zahnsplitter, den die Erzählerin eines Morgens beim Aufwachen in ihrem Mund findet. Der Zahnarzt erklärt ihr, dass sie an „Bruxismus“ leidet, einer Krankheit, bei der sich nachts der Kiefer so verkrampft, dass nicht nur der Zahnschmelz, sondern auch die Kiefergelenke so stark beschädigt werden, dass Kauen und Sprechen im Lauf der Zeit nur noch unter großen Schmerzen möglich sein werden. Als die verschriebene Schiene und die Physiotherapie nicht helfen, versucht sie, die Ursachen dieses nächtlichen Zähneknirschens zu ergründen. Sie denkt über die beiden Sprachen nach, mit denen sie großgeworden ist, das Albanische, das zu Hause gesprochen wird und dessen Wörter für sie leicht formbar sind, und das Deutsche, das sie als Kind vorm Fernseher den Sprechern mühsam vom Mund abgelesen hat – erst an ihrem ersten Tag im Kindergarten begreift sie, dass es sich um eine echte und keine bloße „Fernsehsprache“ handelt.
Nach und nach erinnert sie sich: an Autofahrten mit den Eltern und Geschwistern, bei denen den Kindern vor der serbischen Grenze eingeschärft wurde, nur ja nicht zu sprechen, weil albanisch in Serbien verboten war, an einen Besuch bei den Verwandten im Kosovo, bei dem sie ihren Großvater vermisst, über dessen Abwesenheit niemand spricht, an das Verstummen ihrer Eltern, wenn in den Nachrichten vom Kosovokrieg die Rede ist, an Telefonate mit Verwandten, bei denen ihre Mutter in Tränen ausbricht, es aber ihr gegenüber sofort herunterspielt. Erzählt wird diese Suche nach der Erinnerung nicht linear, sondern in verschiedenen zeitlichen und räumlichen Bezügen, immer wieder auch in Konfrontation mit der Unkenntnis ihrer deutschen Umgebung über diesen Krieg, der sie schließlich ihr Fazit entgegenhält: „Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. … Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“
Jehona Kicaj gelingt es, dieser Sprachlosigkeit die Sprache selbst entgegenzusetzen, ausgehend von dem scheinbar so unbedeutenden titelgebenden Buchstaben, der Bedeutung verändert, ohne je ausgesprochen zu werden. Und diese Sprache, die sie ihre Protagonisten aus den Splittern von Zähnen und den Knochen der im Krieg verscharrten Leichen zusammensetzen lässt, ist so poetisch und glasklar, dass sie bei der Lektüre mitten ins Herz trifft. Ein erstaunliches und unbedingt lesenswertes Debüt!
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.