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ë

Autor
Kicaj, Jehona

ë

Untertitel
Roman
Beschreibung

Auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2025

Der Buchstabe ë wird im Albanischen nie ausgesprochen, beeinflusst aber die Aussprache eines Worts, mit anderen Worten: er steht für eine Leerstelle, die Konsequenzen hat. Genauso verhält es sich mit der Vergangenheit der kosovo-albanischen Familie der Ich-Erzählerin, die vor dem Kosovokrieg nach Deutschland geflohen ist: der Krieg als – sprachliche – Leerstelle, die ebenfalls Konsequenzen hat. Konsequenzen für die namenlose Erzählerin, die zwischen zwei Sprachen aufwächst, die beide auf verschiedene Weise die Leerstelle des Krieges vermeiden, und der scheinbar nur der Rückzug in eine ratlose Einsamkeit bleibt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Wallstein Verlag, 2025
Seiten
176
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-8353-5949-9
Preis
22,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Jehona Kicaj, geb. 1991 in Kosovo und aufgewachsen in Göttingen, studierte Philosophie, Germanistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Hannover. Nach wissenschaftlichen Publikationen erscheinen von ihr seit 2020 auch literarische Texte. Sie ist Mitherausgeberin der Anthologie »„Und so blieb man eben für immer“. Gastarbeiter:innen und ihre Kinder« (2023). Der Roman »ë« ist ihr Debüt.

Zum Buch:

Ausgangspunkt dieses erstaunlichen Romans ist der Zahnsplitter, den die Erzählerin eines Morgens beim Aufwachen in ihrem Mund findet. Der Zahnarzt erklärt ihr, dass sie an „Bruxismus“ leidet, einer Krankheit, bei der sich nachts der Kiefer so verkrampft, dass nicht nur der Zahnschmelz, sondern auch die Kiefergelenke so stark beschädigt werden, dass Kauen und Sprechen im Lauf der Zeit nur noch unter großen Schmerzen möglich sein werden. Als die verschriebene Schiene und die Physiotherapie nicht helfen, versucht sie, die Ursachen dieses nächtlichen Zähneknirschens zu ergründen. Sie denkt über die beiden Sprachen nach, mit denen sie großgeworden ist, das Albanische, das zu Hause gesprochen wird und dessen Wörter für sie leicht formbar sind, und das Deutsche, das sie als Kind vorm Fernseher den Sprechern mühsam vom Mund abgelesen hat – erst an ihrem ersten Tag im Kindergarten begreift sie, dass es sich um eine echte und keine bloße „Fernsehsprache“ handelt.

Nach und nach erinnert sie sich: an Autofahrten mit den Eltern und Geschwistern, bei denen den Kindern vor der serbischen Grenze eingeschärft wurde, nur ja nicht zu sprechen, weil albanisch in Serbien verboten war, an einen Besuch bei den Verwandten im Kosovo, bei dem sie ihren Großvater vermisst, über dessen Abwesenheit niemand spricht, an das Verstummen ihrer Eltern, wenn in den Nachrichten vom Kosovokrieg die Rede ist, an Telefonate mit Verwandten, bei denen ihre Mutter in Tränen ausbricht, es aber ihr gegenüber sofort herunterspielt. Erzählt wird diese Suche nach der Erinnerung nicht linear, sondern in verschiedenen zeitlichen und räumlichen Bezügen, immer wieder auch in Konfrontation mit der Unkenntnis ihrer deutschen Umgebung über diesen Krieg, der sie schließlich ihr Fazit entgegenhält: „Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. … Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“

Jehona Kicaj gelingt es, dieser Sprachlosigkeit die Sprache selbst entgegenzusetzen, ausgehend von dem scheinbar so unbedeutenden titelgebenden Buchstaben, der Bedeutung verändert, ohne je ausgesprochen zu werden. Und diese Sprache, die sie ihre Protagonisten aus den Splittern von Zähnen und den Knochen der im Krieg verscharrten Leichen zusammensetzen lässt, ist so poetisch und glasklar, dass sie bei der Lektüre mitten ins Herz trifft. Ein erstaunliches und unbedingt lesenswertes Debüt!

Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.