Zum Buch:
Zwei außergewöhnliche Frauen im Paris des 18. Jahrhunderts: Die eine sucht in den kalten Monaten nach Leichen zum Zerschneiden, deren Organe sie in Wachs nachbildet. Die andere kann den Frühling, das Erwachen der Natur kaum erwarten, denn dann wird sie wieder Blüten aufs Papier zaubern, so echt, dass man nach ihnen greifen möchte. Marie Biheron und Madeleine Basseporte werden einander in dem Maß verfallen, wie sie sich der Lust zu sehen und der Sehnsucht zu verstehen hingeben. Die Geschichte dieser Liebe erzählt Christine Wunnicke mit so viel Gewitztheit wie Hingabe – und einem unverhohlenen Blick auf die Pariser Gesellschaft.
Schon die erste Szene ist ein Meisterwerk der Erzählkunst, Kopfkino vom Feinsten: An einem Novemberabend im Jahr 1733 stapft eine kleine Person, gewandet in einen langen Umhang, durch den Morast der Rue des Filles Angloises zur Kaserne der Schwarzen Musketiere. Unbemerkt schlüpft das Zwerggespenst in den Rosshof der Kaserne, aus dessen Keller ein jämmerliches Gewimmer dringt. Die Gestalt folgt den kläglichen Lauten und erschreckt im Kellergewölbe einen Kadetten zu Tode, der hier auf einer Oboe fünf Töne immer wieder und immer wieder mit zu dicken Fingern gleich miserabel spielt.
12 Jahre alt ist Marie Biheron, Tochter des Apothekers Biheron, als sie den Schwarzen Musketieren diesen Besuch abstattet, um von ihnen eine Leiche zu erbitten. Alles ein durchaus lustiges Missverständnis, wäre es diesem Mädchen, die Anatomin werden möchte, nicht so ernst. Den Ausdruck „Die Leiche kam vom Militär“ hat das junge Ding für bare Münze gehalten, dabei wird die Redensart nur verwendet, um die Herkunft der von Anatomen sezierten Leichen zu verschleiern.
Als Marie daraufhin von ihrer Mutter zum Zeichenunterricht bei Madeleine Basseporte abgegeben wird, damit sie etwas erlernt, das sich für eine junge Dame ziemt, ist sie von der Schönheit ihrer Lehrerin gebannt: Maries Blick ruht auf Madame Basseporte, bis die Stunde endet. Wenig später wird Marie Madeleine verführen, die Geschichte nimmt ihren Lauf.
Christine Wunnicke hat am 11. Juli den Jean-Paul-Preis erhalten, mit dem der Freistaat Bayern das Lebenswerk einer Schriftstellerin, eines Schriftstellers würdigt. In der Laudatio heißt es „Ihre Werke sind präzise, pointiert, so raffiniert wie elegant, ihr Ton lakonisch – und im besten Sinne unverwechselbar.“ Sehr treffend beschrieben! Zudem macht Wunnickes Humor, der immer wieder unverhofft und sternschnuppengleich aufblitzt, die Lektüre – auch dieses Romans – zu einem ganz besonderen Vergnügen.
Susanne Rikl, München