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Tausend Monde

Autor
Barry, Sebastian

Tausend Monde

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Beschreibung

Gleich zu Anfang sei darauf hingewiesen, dass es sich bei dem neuen Roman Tausend Monde von Sebastian Barry um ein Spin-Off des überaus lesenswerten Vorgängers Tage ohne Ende handelt: das so erbarmungs- wie liebenswürdige Indianermädchen Winona, das weiland von John Cole und Thomas McNulty, den Protagonisten des Vorgängers und Unionssoldaten in den Indianerkriegen, gerettet und adoptiert wurde, ist die Protagonistin dieses Neulings aus dem Hause Barry.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Steidl Verlag, 2020
Seiten
256
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-95829-775-3
Preis
24,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren, gehört zu den »besten britischen und irischen Autoren der Gegenwart« (Times Literary Supplement). Er schreibt Theaterstücke, Lyrik und Prosa. Bei Steidl erschienen bisher seine Romane Ein verborgenes Leben, ausgezeichnet mit dem Costa Book of the Year Award und auf der Shortlist für den Booker Preis, Mein fernes, fremdes Land, ausgezeichnet mit dem Walter Scott Prize for Historical Fiction, Ein langer, langer Weg, auf der Shortlist für den Booker Preis, Gentleman auf Zeit. Sein Roman Tage ohne Ende, 2018 auf Deutsch erschienen, war ein internationaler Bestseller und wurde u. a. mit dem Costa Book of the Year Award ausgezeichnet. Sebastian Barry lebt in Wicklow, Irland.

Zum Buch:

Der so rauschhaft geniale Friedrich Dürrenmatt hat einmal – ich weiß nicht, wo – geschrieben, dass das Verbrechen der Weltordnung nicht darin bestehe, dass es Armut und Elend, sondern dass es Armut und Reichtum gibt. Die Welt, eine kalte Lehmkugel, die ganz ohne Zweck durch das Universum rauscht, auf ihr ein diabolischer Affentanz, den sich der Mensch auf dem Weg ins Nichts selbst inszeniert: Dem Untergang sind wir alle gleichermaßen geweiht, und dass auf der Fahrt in den Abgrund noch nach der Klassenzugehörigkeit gefragt wird, ist eine grosteke Sauerei.

Ungefähr eine solche Sauerei – nur schöner und durch seine Unmittelbarkeit grauenhafter, beschreibt Sebastian Barry in seinem neuen Roman Tausend Monde. Gleich zu Anfang sei darauf hingewiesen, dass es sich um ein Spin-Off des überaus lesenswerten Vorgängers Tage ohne Ende handelt: das so erbarmungs wie liebenswürdige Indianermädchen Winona, das weiland von John Cole und Thomas McNulty, den Protagonisten des Vorgängers und Unionssoldaten in den Indianerkriegen, gerettet und adoptiert wurde, ist die Protagonistin des Neulings aus dem Hause Barry.

Irgendwo im Henry County, in der Nähe der Stadt Paris, im weiten Nichts von Tennessee, liegt eine kleine Farm, die Lige Magan gehört. Wir schreiben das Jahr, tja, 1872 oder 1874, und die Zeiten sind, obwohl das Grauen der Indianerkriege einigermaßen erfolgreich verdrängt wurde, ziemlich hart. Rassismus ist allgegenwärtig, und alles, was dem weißen Mann, der gerade die glorreiche Unabhängigkeitserklärung ausgetüftelt hat, irgendwie fremd vorkommt, wird umstandslos aufgehängt. Natürlich gibt es auch die anderen, die, die sich ernsthaft bemühen, eine Gesellschaft zu bauen, die für alle gleichermaßen lebenswert ist, aber die sind freilich in der Minderheit. Auf der Farm von Lige Magan jedenfalls lebt eine kunterbunte Gemeinschaft zusammen: Das Veteranen-Pärchen John Cole und Thomas McNulty samt Adoptivtochter Winona, die Geschwister Bourgereau und der Hausherr Lige Magan selbst. Jeder kann hier sein und leben, wie er möchte, die Gemeinschaft funktioniert blendend: Ein Archipel der vorsichtigen Zufriedenheit in einer grausamen Welt. Winona ist jung, sie schätzt sich auf ungefähr 17 Jahre und lässt sich auf ein Techtelmechtel mit dem Jungspund Jas Jonski aus Paris ein. Es dauert nicht lange, da wird sie, das erste Mal schwer betrunken, brutal vergewaltigt. Sie erinnert sich an nichts, hat allerdings einen Verdacht, dem sie, wieder aufgepäppelt, nachgeht – fatalerweise. Wenig später wird Tennyson Bourgereau so brutal zusammengeschlagen, dass er nur gerade so mit dem Leben davonkommt, und das mühsam aufrechterhaltene Halbidyll auf der kleinen Farm gerät im Sturm der Ereignisse ins Wanken. Dass sich in Paris kaum jemand um ein vergewaltigtes Indianermädchen oder einen zusammengehauenen Sklaven schert und dass Winona bei ihren Versuchen, sich über sich und ihre Vergangenheit klar zu werden, bald mit der Justiz aneinander gerät, die sie natürlich prompt hängen möchte, ist kaum überraschend, vermittelt aber eindrucksvoll das Gefühl permanenter Bedrohung und hoffnungsloser Ausgeschlossenheit.

„Dass die Welt seltsam und verloren war, ließ sich nicht bestreiten. Dass es auf Erden keinen Ort gab, der nicht gefährlich war, die Nachricht brachte jeder Augenblick.“

Schonungslos, grausam und in homöopathischen Dosen hoffnungsvoll, lässt Barry Winona von ihren Versuchen berichten, sich in einer feindlichen und zerrissenen Welt ein kleines bisschen Gerechtigkeit zu erkämpfen, ohne Hoffnung darauf, das Weltgefüge als solches auch nur ansatzweise ändern zu können. Anderssein ist das große Thema dieses Buches, Anderssein in einer Umgebung, die keine Gnade kennt und die auch nichts von dem Anderen wissen möchte, die alles dafür tut, das Andere loszuwerden. Winona hat eine eigene Stimme, sie hat, das ist das grandiose an der Sprache Barrys, eine eigene Poesie, mit der sie ihre verschwommene und unklare Vergangenheit, ihre Gebrochenheit, aber auch ihren unverbrüchlichen Kampfgeist und Mut beschreibt, mit dem sie sich ihre Identität aus den Widernissen und Widerlichkeiten der Zeit heraus präpariert. Die Momente der Hoffnung, in denen das Panoptikum des Nordamerika in den 1870er Jahren in jeweils einem einzelnen Moment aufgelöst wird, sind anrührend: So etwa, als Winona unverhofft auf ihre große Liebe, ein anderes Indianermädchen, trifft.

Ein hochaktuelles Buch, mit dem der Leser da schockweise beglückt wird, wenn er denn möchte. Ein traurig-beglückendes Gefühl erzeugt dieser Roman, weil er eine unwahrscheinliche Lebens- und Liebesgeschichte erzählt, die nicht ins Bodenlose abstürzt und erst recht keine klebrige Schmonzette ist. Hart und dunkel und trotzdem schön – ein bisschen Glanz auf dem Mattschwarz dieser Welt ist.

Johannes Fischer, Frankfurt